Ästhetik der Dritten Dimension

Angesichts der besonderen Eigenschaften und ihres künstlerischen Potentials ist die lange vernachlässigte Rezeption der Stereoskopie in kunstwissenschaftlichem Kontext — zwischen und jenseits von Malerei und Plastik — tatsächlich ein erstaunliches Desiderat. Die kurze Rekonstruktion der Geschichte tiefenräumlicher Bilddarstellung von ihren Anfängen in der Höhlenmalerei bis hin zur analogen und digitalen Stereoskopie der Gegenwart behandelt einige sich daraus ergebende Fragestellungen und Anschlussmöglichkeiten zu ästhetischen und epistemischen Aspekten der Herstellung medialer Räumlichkeit.

ln der Art und Weise, wie Künstler vergangener Zeiten Raum und Tiefe abgebildet haben, spiegelt sich ihre Wahrnehmung der dritten Dimension, an Beispielen der Kunstgeschichte lassen sich ihre visuellen Kriterien ablesen: Vorperspektivische Raumbild- und Bildraumkonzeptionen gibt es, seitdem Menschen zu Kohle oder Kreide griffen; in der griechischen und römischen Antike kommt bereits eine Linearperspektive ins Spiel, die auf den geometrischen Grundlagen von Euklid beruht. Sie scheint zunächst unseren Sehgewohnheiten eher zu entsprechen, wurde aber im Mittelalter von der ganz anders motivierten Bedeutungsperspektive abgelöst, in der Personen nach ihrer — sozialen oder klerikalen — Stellung entsprechend groß oder klein dargestellt werden, unabhängig von ihrer Position im Raum. Die Kunst der Renaissance kehrte dann wieder zu den antiken Ansätzen zurück und ermöglichte es mit der Entwicklung der Zentralperspektive erstmals, die dreidimensionale Ausdehnung von Körpern im Raum auf einer ebenen Bildfläche proportional richtig wiederzugeben.

Die Entdeckung der Prinzipien des binokularen Sehens schließlich und die Erfindung des Stereoskops durch Charles Wheatstone brachten im 19. Jahrhundert einen völlig neuen und einzigartigen Bildtypus hervor, der historisch ohne Beispiel und ohne jedes Vorbild war, als künstlerisches Medium jedoch bisher kaum Gegenstand seriöser Forschung geworden ist. Dabei ist die Untersuchung des stereoskopischen Bildes hinsichtlich formalästhetischer Gesichtspunkte wirklich interessant: Schon seine prinzipielle Form als Bildpaar — zugleich die Voraussetzung seiner medialen Existenz — und die strukturelle Affinität vor allem von Parallax-Panoramagrammen — nicht minder aber auch von Anaglyphenbildern — mit den Stilmerkmalen des Futurismus sind hierfür augenfällige Beispiele.


Abstract meines Vortrags am 4. November 2018 anlässlich der “3Dimensionale” im Technischen Museum Wien. — Der Vortrag ist die gekürzte und bearbeitete Fassung meines Vortrags anlässlich der Konferenz “Mediale Räume” am 24. Oktober 2012 in Berlin, der als Audiotranskription des frei gesprochenen Textes in dem gleichnamigen Sammelband Mediale Räume des Kadmos Verlags vorliegt (hrsg. von Stephan Günzel, ISBN 978-3-86599-378-6).