Aspekte der Stereoskopie

Schon aus der Antike sind uns zahlreiche Berichte von Malern überliefert, die darum wetteiferten, wem von ihnen die Sinne zu täuschen besser gelänge. Um aus der umfangreichen Anekdotik1 nur ein berühmtes Beispiel zu erwähnen: Parrhasios beobachtete einst herbeigeflogene Spatzen, die an von Zeuxis gemalten Weintrauben pickten. Daraufhin lud jener diesen in seine Werkstatt, um ihm zu zeigen, dass auch er dergleichen beherrsche; dort angekommen, versuchte Zeuxis einen das Bild des Kollegen verdeckenden Vorhang beiseite zu schieben, der freilich wiederum nur gemalt war: der eine täuschte die Vögel, doch die Kunst des anderen vermochte sogar einen Fachmann zu täuschen. Die Fülle ähnlicher Berichte über solche Wirkung von Bildern auf Tiere und Menschen ist seither schier unübersehbar; trompe l’oeil-Vorhänge waren in der Kunst des 17. Jahr­hunderts sehr beliebt, und noch die photorealistische Malerei unserer siebziger Jahre zehrte vom Verlangen des Publikums nach derlei optischer Raffinesse als höchster künstlerischer Meisterschaft, die in der Nach­ahmung der Natur kulminiert und die Differenz von Schein und Wirklichkeit aufzuheben vermag.

Ihren Höhepunkt erreichte diese Tradition in der Renaissance, als es mit der Entwicklung der Zentralperspektive zum ersten Mal möglich geworden war, auf einer ebenen Bildfläche die dreidimensionale Ausdehnung von Körpern im Raum proportional richtig wiederzugeben. Im Jahre 1425 veranstaltete Filippo Brunelleschi das folgende Experiment.2 Eine perspektivische Ansicht des Baptisteriums in Florenz, deren Projektionspunkt in der Mitteltür des gegenüberliegenden Domes lag, brachte er an genau dieser Stelle an, allerdings mit der Rückseite zum Betrachter. Ein kleines Guckloch in der Mitte der Bildtafel gestattete zunächst den Durchblick nach außen auf das Baptisterium selbst; hielt man dann aber einen Spiegel dazwischen, sah man stattdessen das Gemälde. Der Eindruck muss zeitgenössischen Schilderungen zufolge überwältigend gewesen sein, und er wurde noch gesteigert durch einen weiteren Spiegel auf der Bildtafel, der die Darstellung des Gebäudes umschloss und die Wolken über dem echten Baptisterium auf den ersten Spiegel reflektierte. Damit waren die Vorzüge der neuen Darstellungsmethode auf verblüffende Weise demonstriert: die sichtbare Welt war fortan den mechanischen Regeln einer rationalen Konstruktion unterworfen und konnte exakt reproduziert werden.

Aber bereits Leonardo klagte über die Mängel auch der besten Gemälde dieser Art hinsichtlich des angestrebten räumlichen Illusionismus im Vergleich zur Plastizität wirklicher Gegenstände. Obwohl er diese qualitative Verschiedenheit der Wahrnehmung durchaus mit der Zweiäugigkeit des Sehens gegenüber der Einäugigkeit einer gemalten Perspektive in Verbindung brachte,3 hat es dann noch mehr als drei Jahrhunderte gedauert, bis der vielseitige Physikprofessor Sir Charles Wheatstone endlich die Prinzipien der Stereoskopie entdeckte. Als er im Sommer 1838 von seinen Forschungsergebnissen berichtete, versäumte er nicht, zugleich auch auf die zukünftigen Aufgaben von Künstlern hinzuweisen, die dank seiner neuen Erfindung nun in die Lage versetzt worden seien, „die beiden Einzelbilder derart zu zeichnen und zu malen, dass sie dem Beschauer bei der Wahrnehmung des Vereinigungsbildes etwas mit dem dargestellten Objekt vollkommen gleiches vorführten“; er freute sich im Voraus schon auf stereoskopisch gemalte „Blumen, Kristalle, Büsten, Vasen“ und dergleichen, die „durch die Augen nicht von den wirklichen Objekten selbst unter­schieden werden können.“4

Sofern die genannten Sujets dem persönlichen Geschmack von Sir Charles entsprachen, wollen wir nicht darüber streiten; wenn er sie aber etwa deswegen besonders erwähnte, weil solche banalen Dinge als Bildthemen das Publikum nicht so sehr mit inhaltlichen Deutungsversuchen und überflüssigen Assoziationen ablenken, hätte er damit einen wesentlichen Aspekt stereoskopischer Malerei antizipiert. Er jedenfalls bevorzugte auf bloße Liniengerüste reduzierte Strichzeichnungen klarer geometrischer Figuren, damit er seine experimentellen Untersuchungen frei von störenden Einflüssen durchführen konnte. Ebenso wird es auch einer künstlerisch motivierten Konzeption der Stereoskopie darum gehen, von vorneherein möglichst jene Fragen auszuschalten, die — oft vergeblich — um die mutmaßlichen Absichten des Schöpfers kreisen und die eigentliche Rezeption des Werkes eher behindern als fördern: je weniger ein Betrachter sich damit beschäftigen muss, was ihm der Künstler wohl habe sagen wollen, desto mehr kann er seine Aufmerksamkeit auf das Medium richten, das selbst ein Teil der Botschaft ist.

Deren anderer Teil indes reicht weit in den tiefgreifenden Komplex einer außerkünstlerischen Problematik hinein, die sich aus der sensationellen Entdeckung der Stereoskopie ergibt und zu metaphysischen Überlegungen führt, welche wiederum frappierende Konsequenzen in Bezug auf den (vermeintlich) illusionistischen Charakter eines stereoskopischen Raumbildes einerseits sowie auf den Realitätsgehalt des stereoskopischen Bildraumes andererseits nach sich ziehen. Folgen Sie mir kurz auf einen Gedankengang, der uns den Rätseln der Stereoskopie vielleicht ein Stück näher bringt.

Wie das Beispiel von Zeuxis und Parrhasios zeigt, muss die Bemühung um Sinnestäuschung keineswegs in ursächlichem Zusammenhang mit der strengen Kunst der Perspektive stehen; illusionistische Effekte lassen sich offenbar auch ohne sie erzielen, und genauso kommen diese ohne stereoskopische Verdoppelung aus. Infolgedessen hat die Stereoskopie nicht notwendigerweise etwas mit jenen die Grenzen von Realität und Illusion verwischenden Kunststücken zentralperspektivischer Provenienz zu tun, die Brunelleschi so meisterlich vorführte, obwohl sie sich manchmal gleicher Mittel zu bedienen scheinen. Denn herkömmliche Gemälde — und Photographien — können aufgrund ihrer Ausrichtung auf nur einen Augenpunkt bestenfalls als optische Täuschung wirken, die, so gut sie auch gelungen sei, meist nicht sehr lange anhält. Im Gegensatz dazu wird die stereoskopische Raumerscheinung durch die Verschmelzung von zwei Bildern ausgelöst, deren unterschiedliche Perspektive der Parallaxe des Augenabstands entspricht. Während die Augen diese beiden Teilbilder (mittels einer stereoskopischen Vorrichtung) jeweils optisch korrekt aufnehmen, wird das Raumbild erst durch eine Fusionsleistung des Betrachters hervorgebracht; die Täuschung — wenn es überhaupt eine ist — findet demnach nicht in seinen Augen statt, sondern in seinem Gehirn, und obwohl er sie sofort durchschaut, unterliegt er ihr doch: er kann sich ihr gar nicht entziehen. Die retinalen Sinnesdaten sind sowohl beim normalen Sehvorgang als auch beim Blick durchs Stereoskop (fast) identisch, die sensorischen Prozesse laufen in beiden Fällen gleich ab und die spontan empfundene Räumlichkeit aufgrund der unweigerlichen Vereinigung der doppelten Netzhautbilder — bzw. eines stereoskopischen Bildpaares als zwischengeschaltetes Substitut — zum plastischen Eindruck erscheint gleichermaßen authentisch.5 Will man nicht die ganze wahrgenommene Welt zur Phantasmagorie und Halluzination erklären, darf man auch dem stereoskopischen Effekt nicht einfach Wirklichkeit absprechen; der visuelle Raum ist echt und — hier wie dort — weder Surrogat noch Fata Morgana.

Dies ist deswegen nicht nur möglich, vielmehr sogar zwangsläufig so, weil der Raum — obwohl er immer wieder als realontologische Struktur erscheint — kein Gegenstand der Wahrnehmung ist, sondern eine Weise, Gegenstände wahrzunehmen. Nach der kritischen Analyse der Erkenntnisprinzipien von Immanuel Kant kann Raum „nur die Form aller Erscheinungen (sein), … unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist“,6 d. h. „eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt“,7 nicht aber eine Eigenschaft, die den Dingen selbst anhaftet. Das Phänomen der Stereoskopie wird zuerst und allein unter dieser Prämisse begreiflich, weil die unwillkürliche Raum­empfindung aus der Betrachtung zweier zweidimensionaler Bilder empirisch nicht gewonnen werden kann: tatsächlich gibt es hier ja gar keine Dreidimensionalität und darum besteht eigentlich auch kein Anlass, sie trotzdem zu sehen. Damit befinden wir uns allerdings inmitten einer folgenschweren Aporie, die — in der Nachfolge Kants und unter ausdrücklicher Berufung auf die Erfindung des Stereoskops — Arthur Schopenhauer thematisiert hat. Insofern nämlich die binokulare Fusion physiologisch im zentralen Nervensystem lokalisiert ist, gestaltet Raum sich als Produkt eines Organs, dessen Voraussetzung er andererseits immer schon sein muss.

Die Stelle nun, an der die Metaphysik der Wahrnehmung so spektakulär in Metaphysik des Raumes umschlägt und vice versa, wird nirgends sonst so deutlich wie in der Simulation der visuellen Raumwahrnehmung durch die Stereoskopie — und zwar gerade wegen ihrer Beschränkung auf nur zwei parallaktisch verschiedene Perspektiven, die Dreidimensionalität auch da noch stiften, wo in Wahrheit nichts als Fläche ist. Ein Hologramm mit seiner multiperspektivischen Überfülle an Plastizität ist in diesem Sinne viel zu gewöhnlich, um noch Erstaunen hervorzurufen. Der Blick ins Stereoskop gerät dagegen stets aufs Neue zum Mysterium — einem quasidialektischen Mysterium zumal, das sich durchaus in These (linkes Bild), Antithese (rechtes Bild) und Synthese (fusioniertes Bild) vollzieht — einer ganz und gar antimaterialistischen Dialektik freilich, die auch nicht in einzelnen Schritten, sondern sofort und gleichzeitig vor sich geht: die Duplizität der stereo­skopischen Zwillinge wird augenblicklich aufgehoben (in Hegels dreifacher Wortbedeutung) in der Identität ihrer imaginären Vereinigung. Indem jedes dem anderen gibt, was diesem fehlt, verlieren sie beide als seine materiellen Substrate — wenn auch nur vorübergehend — ihre faktische Individualität samt ihrer stofflichen Beschaffenheit zugunsten jenes virtuellen Dritten, das sie — verschwindend — gemeinsam zwar erzeugen, doch das real nicht existiert.

Die Entdeckung von Charles Wheatstone war also zugleich die Geburtsstunde eines völlig neuartigen Bildtypus, der historisch ohne Beispiel und ohne jedes Vorbild ist; die in ihm verborgenen künstlerischen Möglichkeiten sind bisher jedoch noch kaum erschlossen. Das fundamentale Paradoxon der Stereoskopie, das sich im nahtlosen Zusammenspiel des Irrealen der Realität mit der Realität des Irrealen ereignet, verleiht ihr — neben dem geschilderten spekulativen — nicht zuletzt auch ihren besonderen ästhetischen Reiz. Dieser schließlich charakterisiert die stereoskopische Malerei — einem Zwitterwesen gleich — als Singularität innerhalb der bildenden Kunst: zwischen und jenseits von Malerei und Plastik. In logischer wie letzter Konsequenz klassischer Maltraditionen enthüllt aber gerade sie vor aller Augen die genuinen Ambivalenzen des Sehens und des Sichtbaren, denen sie selbst sich verdankt.


© 1990 Achim Bahr. — Beitrag zum Katalog der Ausstellung vision RAUM, Neckarwerke, Fellbach 1991; gleich lautend veröffentlicht in 1 + 1 = 3, Museum für Kunst und Kultur­geschichte, Goch 1993. — Der Text ist dem Zusammenhang eines größeren, in Teilen bereits veröffentlichten Aufsatzes des Autors, Stereoskopie als angewandte Meta­physik, entnommen; vgl. ders.: Über stereoskopische Malerei, Katalog zur Aus­stellung Stereoskopie, Museum für Verkehr und Technik (heute: Deutsches Technikmuseum Berlin), Berlin 1989. 

  1. Siehe hierzu Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler — Ein geschichtlicher Versuch, mit einem Vorwort von Ernst Gombrich, Frankfurt 1980, 89ff ↩︎
  2. Brunelleschi selbst gilt allgemein als Erfinder der Zentralperspektive; historische Quelle ist der Bericht des Augenzeugen Antonio Manetti, dem Freund, Bewunderer und Biographen von Brunelleschi. Das Experiment ist übrigens von Studenten der Universität Florenz mit Erfolg rekonstruiert worden; vgl. Joscijka Gabriele Abels: Erkenntnis der Bilder, Teil I, Abs. 3, Frankfurt/New York 1985, 79ff, aber auch Paul Kurt Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Kap. 1, Frankfurt 1984, 17ff ↩︎
  3. Vgl. Leonardo da Vinci: Traktat von der Malerei, nach der Übersetzung von Heinrich Ludwig neu herausgegeben und eingeleitet von Marie Herzfeld, Jena 1925, Zweiter Teil, Abschnitt II F, Nr. 197 (97f) und besonders Dritter Teil, II. Hauptabschnitt, Faszikel 4, Nr. 461ff (200ff) ↩︎
  4. Charles Wheatstone: Beiträge zur Physiologie der Gesichtswahrnehmung. Erster Teil. Über einige bemerkenswerte und bisher nicht beobachtete Erscheinungen beim beidäugigen Sehen, §4, in: Abhandlungen zur Geschichte des Stereoskops, herausgegeben von Moritz von Rohr, Leipzig 1908, 11f ↩︎
  5. Deswegen scheint auch Sartres strenge Abgrenzung von Vorstellung und Wahrnehmung hier nicht zuzutreffen; vgl. Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre — Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Reinbek 1971 ↩︎
  6. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, §3b; Werke in zehn Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Darmstadt 1981, 75 ↩︎
  7. ebd., §2, Abs. 2, a. a. O., 72 ↩︎