Von den zahlreichen Methoden, die je zur Betrachtung stereoskopischer Bildpaare ersonnen wurden, hat keine auch nur annähernd eine solche Popularität erlangt, die der des Anaglyphenverfahrens vergleichbar wäre. Die Farbfilterbrille mit ihren typischen roten und grünen Gläsern oder Folien ist im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit als so genannte »3D-Brille« geradezu gleichbedeutend mit dem Begriff der Stereoskopie selbst geworden.
Um so notwendiger aber scheint nun die Rehabilitierung dieser Technik im Kreis der Freunde und Liebhaber des Raumbildes, die ihr oft ablehnend, wenn nicht mit Verachtung begegnen und dabei vergessen, dass es durch sie überhaupt ermöglicht wurde, stereoskopische Lichtbild- und später auch Filmprojektionen anstatt nur einer erstmals mehreren Personen zur selben Zeit vorzuführen.
Die Idee geht auf Wilhelm Rollmann zurück. Nachdem er zuvor „ein ihm bequem erscheinendes Verfahren“1 binokularer Betrachtung von nebeneinander angeordneten Halbbildern mit parallel gerichteten Blickachsen empfohlen hatte, bei dem man die Augen mit den Fingern auseinanderziehen sollte,2 veröffentlichte er 1853 den originellen Einfall, die Halbbilder komplementär einzufärben und übereinander zu legen.3 Mittels entsprechend farbiger Gläser können sie anschließend wieder getrennt gesehen werden, weil das jeweils gegenfarbige Bild auf hellem Grund dunkel erscheint, das jeweils gleichfarbige aber durch Absorption erlischt. Das 1858 von Charles d’Almeida beschriebene Prinzip4 beruht dagegen auf dem umgekehrten Vorgang, durch den sich das gleichfarbige Bild vor dunklem Grund hell abhebt und das gegenfarbige unterdrückt wird.5 Während diese Methode für Projektionen nicht nur geeignet, sondern von ihrem Erfinder auch eigens zu diesem Zweck erdacht war, machte Rollmanns Technik ab 1891 Furore, als Louis Ducos du Hauron sie — allerdings unter fälschlicher Berufung auf d’Almeida — für den Buchdruck adaptierte und ihr ihren Namen gab: Anaglyphen.6
Da die Farben hierbei zur Bildseparation verwendet werden, lassen sich damit normalerweise nur Schwarz/Weiss-Abbildungen erzielen;7 vor allem auf diesem Mangel beruht offenbar die heutige Geringschätzung des Anaglyphenverfahrens, das den Ansprüchen moderner Projektions- und Reproduktionstechnik inzwischen nicht mehr genügt. Abgesehen vom nostalgischen Reiz, den manche Rot/Grün-Filme zweifellos ausüben, fällt die Entscheidung hinsichtlich adäquater Film- und Diavorführungen seit Entwicklung der Polarisationstechnik natürlich leicht; dass die Anaglyphen aber auch aus dem Bereich der Druckmedien fast vollständig verschwunden sind, ist jedoch nicht unbedingt einzusehen. Hinreichende Stereotauglichkeit vorausgesetzt, gelingt es nämlich sogar Laien,8 ohne umständliches und teilweise von nachhaltigen Frustrationserlebnissen begleitetes Hantieren mit Linsen oder Prismen den plastischen Effekt anaglyphischer Abbildungen auf Anhieb hervorzurufen. Der erwähnten Popularität der »3D-Brille« entspricht durchaus eine allgemeine Akzeptanz dieses Verfahrens auf Seiten eines großen Publikums, dem dadurch die Stereoskopie auch insgesamt nähergebracht werden könnte, und wo zudem noch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle spielen, wird es sich ohnehin von selbst anbieten.
Indessen verliert die Diskussion der Vorzüge und Nachteile9 von Anaglyphen als Methode stereoskopischer Bildwiedergabe ihren Sinn, sobald man Rollmanns Erfindung nicht mehr bloß nach technischen, sondern nach ästhetischen Kriterien bemisst. Eine anaglyphische Abbildung kann — auch ohne Brille — ungemein apart anmuten und trägt darüber hinaus Qualitäten einer eigenständigen Kunstform in sich.10 Angesichts der sensationellen Entdeckung von Charles Wheatstone,11 die zugleich die Geburtsstunde eines neuartigen und historisch einmaligen Bildtypus war, bleibt die völlig vernachlässigte Rezeption der Stereoskopie in kunstwissenschaftlichem Kontext nach wie vor ein erstaunliches Desiderat. Als künstlerisches Medium ist das stereoskopische Bild — weder im Allgemeinen, noch in seiner anaglyphischen Gestalt — bisher kaum Gegenstand seriöser Forschung gewesen; dabei wäre eine solche Untersuchung allein schon nach formalästhetischen Gesichtspunkten überaus lohnend und interessant, beispielsweise bezüglich der strukturellen Affinität vor allem von Parallax-Panoramagrammen — nicht minder aber auch von Anaglyphenbildern — mit den Stilmerkmalen des Futurismus.
In der Wiedergabe stereoskopischer Anamorphosen schließlich hat sich das Anaglyphenverfahren eine Domäne bewahrt, wo es — außer den erheblich aufwendigeren und deshalb kostspieligen Vektographen — tatsächlich keine praktikable Alternative gibt. Die frappierende Plastizität des Fusionsbildes wird hier durch die perspektivisch verzerrte Geometrie der Darstellung herbeigeführt, die sich unter schrägem Blickwinkel vor den Augen des Betrachters aufrichtet und dabei das zweidimensionale Bild — seiner materiellen Substanz gleichsam enthoben — zu einem dreidimensionalen Gebilde transformiert, in dessen flüchtiger und widersprüchlicher Wahrnehmung der imaginäre mit dem Realraum verschmilzt.12 Nicht zuletzt an diesem Phänomen erweist sich auch die anamorphotische Variante der Stereoskopie — einem Zwitterwesen gleich — als Singularität innerhalb der bildenden Kunst: zwischen und jenseits von Malerei und Plastik:13 Als hybride Erscheinung eines konkreten Phantoms ist das Produkt aus Anamorphose und Anaglyphen sowohl Novum wie Kuriosität auf dem Gebiet der visuellen Ästhetik; der eklatante Zusammenfall von Form und Funktion der Anaglyphen in der stereoskopischen Anamorphose aber legitimiert diese Technik nicht nur als künstlerische Disziplin, sondern verleiht auch ihrem Namen erst die eigentliche Bedeutung.
© 1993 Achim Bahr. — Zuerst veröffentlicht in: 3D-Magazin 4, Haltern 1993; engl. Fassung Anaglyphs in: Stereoscopy Nr. 2/36, International Stereoscopic Union 1998
- Moritz von Rohr: Die binokularen Instrumente, Berlin 1920, 101 ↩︎
- Wilhelm Rollmann: Notiz zur Stereoskopie, J. C. Poggendorffs Annalen der Physik (und Chemie), Halle/Leipzig 1853, 89, 350f ↩︎
- ders.: Zwei neue stereoskopische Methoden, Pogg. Ann. 1853, 90, 186f ↩︎
- Charles d’Almeida: Ein neuer Stereoskopapparat, in: Moritz von Rohr (Hrsg.), Abhandlungen zur Geschichte des Stereoskops, Leipzig 1908, 103f ↩︎
- Auf den Unterschied von subtraktiver und additiver Verwendung der Komplementärfarben bei Rollmann bzw. d’Almeida hat Otto Vierling nachdrücklich hingewiesen: Die Stereoskopie in der Photographie und Kinematographie, Stuttgart 1965, 209f ↩︎
- Die dem Griechischen entlehnte Wortbildung aus der Vorsilbe ana und dem Verb glyphein bedeutet etwa wie herausgemeißelt. ↩︎
- Zwar sind farbige Anaglyphen prinzipiell möglich und auch erprobt worden, doch konnten sie — zumindest bisher — nicht frei von Störbildern realisiert werden. vgl. hierzu u.a. Otto Vierling, a. a. O., 142f, sowie Wolfgang Dultz / Susanne Klein: Raumbildtechniken für den Bildschirm, in: Gerhard Kemner (Hrsg.), Stereoskopie, Kat. Museum für Verkehr und Technik, Berlin 1989, 89 ↩︎
- und — entgegen einer weit verbreiteten Meinung — übrigens auch Farbenblinden ↩︎
- Vgl. Otto Vierling, a. a. O., 140ff ↩︎
- Prägnantes Beispiel hierfür ist das Werk von László P. Futó, der seine anaglyphische Malerei als individuelle „Stilrichtung definiert und seine Bilder und bemalten Reliefs auch oder vielmehr gerade auch ohne Brille als „vollwertige Kunstobjekte versteht. László P. Futó: Anaglyphenmalerei – Eine Methode der Raumgestaltung, Zürich 1991, 19; Rezension des Buches von Alexander Klein in: 3D-Magazin 2/1993, 40 ↩︎
- Charles Wheatstone: Beiträge zur Physiologie der Gesichtswahrnehmung, in: Moritz von Rohr, Anm. 4, 3ff ↩︎
- vgl. Achim Bahr: Aspekte der Stereoskopie, Kat. vision Raum, Neckarwerke, Fellbach 1991 (o. S.) ↩︎
- Hier kommt ein weiterer wesentlicher Problemkreis ins Spiel, der in diesem Zusammenhang ebenfalls noch nie thematisiert worden ist und der sich kurz mit dem Begriff des Paragone, d. i. der historische Streit um die Vorherrschaft der Künste, kennzeichnen lässt. ↩︎