Stereoskopische Anamorphose
Hinweis zur Betrachtung
Um den besonderen Effekt dieser dreidimensionalen Ansicht von Neuschwanstein hervorzurufen, legt man das Bild zunächst waagerecht vor sich. Man hält den Rotfilter der Farbbrille vor das linke und den Grünfilter vor das rechte Auge und betrachtet das Bild aus einem schrägen Blickwinkel von ca. 45°. Es wird richtig gesehen, wenn die Darstellung sich aufrecht und gerade aus der Bildfläche erhebt. Der höchste — achteckige — Turm erscheint dann etwa 11 cm groß.
Neuschwanstein
Die Abbildung zeigt die Schlossanlage aus südlicher Richtung von oben her. Vorne links erblickt man zunächst den schlanken Palas, der in seinem charakteristischen Knick dem Verlauf des Felsenrückens folgt. An seiner Westfront ist der doppelstöckige Balkon des Thronsaales zu sehen, darunter eine Tür, die zu einer nicht ausgebauten Plattform führen sollte; oberhalb des Balkons steht auf dem hohen, von zwei Ecktürmchen eingefassten Giebel eine Ritterfigur mit Schild und Lanze.
Über dem Dach mit seinen Gauben und Kaminen erhebt sich an der Nordseite des Palas der minarettartige so genannte Achteckturm. Rechts des vorderen runden Turms befinden sich im Erdgeschoss die Terrasse der Schlossküche und im dritten Stockwerk Balkon und Erker zum Schlafzimmer des Königs. An der Ostfassade des Palas ist eins der beiden achtseitigen Erkertürmchen sichtbar und auf dem Dachgiebel ein Löwe als Abschluss.
Nach Osten schließt sich vorne die erst 1892 fertiggestellte Kemenate an; in ihren steil abfallenden Fundamenten kann man zwischen dem abgewinkelten Treppenturm und dem hervorspringenden Risalit die Überbrückung einer Felsenkluft erkennen. Hinter der Kemenate öffnet sich der Obere Schlosshof, an dessen apsidenförmigen Brüstungsmauern noch der Chorumriss der ursprünglich geplanten Kapelle deutlich wird. Da dieser Teil der Anlage — mit einem alles überragenden Bergfried — nach dem Tod des Königs jedoch nicht mehr ausgeführt wurde, ist die Sicht auf die nördlichen Gebäudeteile frei.
Vom Palas zum Viereckturm mit seinem weit ausladenden Umgang erstreckt sich ein schmaler Verbindungsbau, in den das dreistöckige Ritterhaus eingegliedert ist; die zum Teil verdeckte Treppe vor dem Eingangsportal führt ins erste Stockwerk des Palas. Im Nordosten wird der tiefergelegene Untere Schlosshof von einem weiteren Verbindungsbau mit vorgelagertem Treppenaufgang sowie vom Torbau und seinen Ecktürmen umgrenzt. Dieser Abschnitt des Bauwerks, der sich durch sein rötlich gefärbtes Gestein abhebt, war als erster fertiggestellt und wurde auch zeitweilig vom König bewohnt; durch den Torbogen gelangen heute die Besucher ins Museum.
Neuschwanstein und Ludwig II
Neuschwanstein ist der seit 1891 gebräuchliche Name der Neuen Burg Hohenschwangau, die auf Weisung König Ludwigs II von Bayern über den Fundamenten einer mittelalterlichen Burgruine am Rande der Alpen errichtet wurde. Es war das erste der drei großen Bauprojekte des Königs, dem noch die Schlösser Linderhof und Herrenchiemsee folgten.
Bei der Grundsteinlegung 1869 war Ludwig II gerade 24 Jahre alt und seit fünf Jahren im Amt; die Fertigstellung der Schlossanlage erlebte er jedoch nicht mehr. Nach seinem rätselhaften Tod 1886 im Starnberger See wurden nur noch die nötigsten Baumaßnahmen durchgeführt, wesentliche Teile der Schlossanlage aber nicht mehr verwirklicht.
Obwohl unvollendet, geht doch von kaum einem anderen Bauwerk eine ähnliche Faszination aus. Der Grund hierfür dürfte wohl nicht allein in der Architektur und ihrer malerischen Umgebung zu suchen sein, sondern auch in der Person Ludwigs II selbst, mit dessen Verklärung zum träumerischen Märchenkönig sich schon zu seinen Lebzeiten die Vorstellung von Neuschwanstein als einem Märchenschloss verband.
An der Planung und Gestaltung der Schlossanlage war der König maßgeblich und bis ins Detail beteiligt. Von vorne herein nicht zu repräsentativen Zwecken gedacht, verkörperte der Bau für ihn die Idee eines Königtums, das im 19. Jahrhundert längst keine reale Entsprechung mehr fand. Ausgehend von historischen Vorbildern — u. a. der Wartburg — und unter dem Einfluss der Opernwelt Richard Wagners, wurden die ersten Entwürfe für Neuschwanstein nach den Wünschen des Königs von einem Theatermaler angefertigt. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch der Ausspruch Ludwigs II, er wolle gar nicht wissen, wie es gemacht sei, sondern nur die Wirkung sehen.
In dieser Absicht unternahm er seine legendären nächtlichen Ausflüge zur Brücke über der Pöllatschlucht, um sich von dort aus in den Anblick seines Schlosses zu versenken.
Neuschwanstein dreidimensional
3D-Abbildungen folgen dem Prinzip des natürlichen Sehens mit zwei Augen: durch den Abstand, den sie zueinander haben, sieht das linke Auge einen Gegenstand aus einer etwas anderen Blickrichtung als das rechte. Diese beiden perspektivisch verschiedenen Ansichten werden im Gehirn zu einer einzigen, dreidimensionalen Wahrnehmung verschmolzen.
In der Technik der Stereoskopie wird dieser Vorgang mittels zweier Abbildungen nachgeahmt, die sich in ihrer Perspektive — dem Augenabstand entsprechend — unterscheiden. Um den 3D-Effekt herbeizuführen, müssen die beiden Bilder den Augen jedoch getrennt dargeboten werden, damit das linke Auge nur das linke und das rechte Auge nur das rechte Bild zu sehen bekommt.
Zu diesem Zweck kann man ein stereoskopisches Bildpaar in rot und grün übereinander drucken und es dann mit einer Farbfilterbrille betrachten. Dabei wird im Grünfilter der Brille das grüne und im Rotfilter das rote Bild unsichtbar und jedes Auge erhält so nur den jeweils ihm zugeordneten — gegenfarbigen — Bildteil. Für das Gehirn entsteht daraus wie beim normalen Sehvorgang ein räumlicher Eindruck.
Nach dieser Methode wurde auch die vorliegende Abbildung von Neuschwanstein gedruckt. Sie unterscheidet sich allerdings von allen herkömmlichen Stereobildern durch ihre erstaunliche und einzigartige Wirkung. Bei der Betrachtung des waagerecht liegenden Bildes mit der Rot/Grün-Brille aus einem schrägen Blickwinkel richtet sich die Darstellung auf und erhebt sich plastisch aus der Fläche !
Diesem spektakulären Effekt liegen besondere Verzerrungen in der Wiedergabe zugrunde, die ohne 3D-Brille gut zu erkennen sind. Solche anamorphotischen Deformationen kommen unter natürlichen Bedingungen nicht vor und lassen sich auch mit photographischen Mitteln nicht erzielen. Da sie nur über geometrische Berechnungen gewonnen werden können, musste die gesamte Schlossanlage zunächst in einem aufwendigen Verfahren rekonstruiert werden.
Hierzu wurden anhand originaler Baupläne und Architekturaufnahmen die Gebäudefassaden vermessen und mit Hilfe eines Computersystems zu einem maßstabgetreuen Modell verarbeitet, das anschließend mit unzähligen Einzelheiten angereichert wurde. Aus der Fülle dieser Details sowohl der Schlossanlage als auch des Geländes mit seinen vielfältigen Bäumen und Sträuchern ergibt sich die photographisch anmutende Qualität der Darstellung. Doch erst bei der Berechnung der beiden stereoskopischen Perspektiven wurden dann im letzten Schritt jene notwendigen Verzerrungen vorgenommen, die diese frappierende, jede Photographie übertreffende Plastizität ermöglichen.
Neuschwanstein von Achim Bahr
Der Künstler Achim Bahr, geboren 1956 in Köln, beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit dem Phänomen der räumlichen Wahrnehmung. Schon während seines Studiums an der Kunstakademie in Düsseldorf experimentierte er mit den Möglichkeiten dreidimensionaler Bildwiedergabe auf der Grundlage des zweiäugigen Sehens. Seine stereoskopischen Gemälde und Zeichnungen, die durch optische Vorrichtungen mit Spiegeln und Prismen betrachtet werden können, erregen auf Ausstellungen große Aufmerksamkeit.
Mit einer speziellen Methode der perspektivischen Verzerrung, die auch bei dieser Ansicht von Schloss Neuschwanstein zur Anwendung kommt, gelingt es ihm, eine Einheit von Wissenschaft und Kunst herzustellen.
Achim Bahr prägte für diesen ungewöhnlichen Bildtypus den Begriff stereoskopische Anamorphose. Bereits 1981 veröffentlichte er die erste Grafik dieser Art, das Motiv eines Schachbretts, die heute ein seltenes Sammlerstück geworden ist. Für die Deutsche Bundespost fertigte er in dieser Technik das weltweit erste 3D-Schmuckblatt-Telegramm an und begeisterte damit eine breite Öffentlichkeit.
Mit seiner stereoskopischen Anamorphose von Neuschwanstein setzt Achim Bahr einen neuen Meilenstein auf dem Gebiet dreidimensionaler Abbildungen.
Neuschwanstein — Stereoskopische Anamorphose
© 1994 Achim Bahr, Düsseldorf / Frohn Verlag, Essen
ISBN 3-88578-333-9
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© 1994 FROHN VERLAG, ESSEN — GERMANY